Transformationsprozesse

Wie ein Bielefelder Beamter das klimagerechte Bauen für mittlere Einkommen möglich macht. – und seinen Hut nehmen muss

Eine vielgelobte, zukunftsweisende Klimaschutzsiedlung mit über hundert neuen Wohnungen auf einer Industriebrache in einem Stadtumbauquartier, gemeinsam als lokales Zukunftsversprechen geplant, hocheffizienter zertifizierter Holzbau, kalte Nahwärme mit Wärmepumpen und Strom aus erneuerbaren Energien, Klimafolgenanpassung umgesetzt, flächensparend geplant, sozialer Wohnungsbau integriert. Das Schillinggelände in Sennestadt, als „Reichow für das 21. Jahrhindert“ politisch gewünscht und von der Sennestadt GmbH mit uns entwickelt, ist ein zentraler Baustein zur Transformation der von sozialer Segregation geprägten Sennestadt. Alles richtig gemacht – und trotzdem 2023 kein einziges Haus verkauft.

Der Einbruch am Immobilienmarkt geht auch an Modellprojekten nicht spurlos vorüber.

Trotz Erfolg, begeisterten Baufamilien und unzähligen Einladungen zur Vorträgen über das außergewöhnliche Projekt: Neue Vertragsabschlüsse 2023 gleich Null! Fast alle geplanten Finanzierungen interessierter Baufamilien sind geplatzt und damit der Traum vom bezahlbaren, klimagerechten Wohnen in einer Siedlung mit Zukunfts- und Sicherheitsversprechen. Statt zu jammern, brauchte es eine nüchterne Analyse und ein Team mit Lösungswillen. Mit der Sennestadt GmbH am Tisch: Der Siedlungspartner SchwörerHaus KG, eines der bundesweit größten Unternehmen für serielles und modulares Bauen, die lokalen Stadtwerke und die lokale Sparkasse. Zur Unterstützung, ein versierter freier Finanzierungsberater, die Wohnraumförderung der Stadt Bielefeld und ein vielfältiges lokales Expertennetzwerk.

Ein Finanzierungskonzept für Einsteiger als Sennestädter Modell

Den Anfang machen zehn Reihenmittelhausgrundstücke der Sennestadt GmbH jeweils mit rund 180 m2 Grundstücksfläche plus Eigentumsanteil an Gemeinschaftsflächen in „Wohnhof“ und Grünfläche zielt auf Familien mit Anspruch auf Wohnraumförderung A nach den Wohnungsbauförderbestimmungen NRW. Die Sennestadt GmbH gibt einen Familienbonus von 30 Euro pro Quadratmeter Grundstücksfläche, die SchwörerHaus KG bringt ein malerfertiges Reihenmittelhaus mit 122 m2 Wohnfläche für 2900 Euro pro Quadratmeter ein. 250.000 Euro Wohnraumförderung ergeben sich für eine vierköpfige Familie über 30 Jahre als zinsbegünstigtes Darlehen. Bauen mit Holz und Barrierefreiheit serienmäßig. Für die Restfinanzierung hat die Sennestadt GmbH mit zwei Banken besondere Konditionen für eine Laufzeit von 25 Jahren ausgehandelt. Damit gibts das Eigenheim zu Konditionen der Bielefelder Vergleichsmiete für dauerhaft sichere zehn Euro pro Quadratmeter und Monat. 20.000 Euro Eigenkapital reichen und Tilgungen sind flexibel möglich. Weitere Varianten sollten folgen. Die Idee dazu hatte ein kommunaler Beamter: Bernhard Neugebauer ist Geschäftsführer der städtischen SENNESTADT GMBH, Verwaltungsbetriebswirt und ein offener und kreativer Kopf, wenn es um Lösung geht.

Der Wohnraum in der Klimaschutzsiedlung ist trotz sehr hoher Qualität bezahlbar.

Bezahlbarkeit hängt von die Wirtschaftskraft der eigentumsbildenden sozialen Milieus ab und stellt keine absolute Größe dar. Den sozialen Mix und die Wanderungsbewegungen der Zielgruppen waren aus den Analysen gut bekannt und bildeten seinerzeit die Basis des städtebaulichen Konzepts mit dem Wohnungsmix und der Dichte. Das bestätigt sich heute in der Vertriebspraxis. Entgegen aller Unken: Das Problem liegt nicht in den hohen Qualitätsanforderungen. Im Gegenteil: Die vorausschauende Planung und die Qualitätsstandards zahlen sich bei Förderdarlehen erkennbar aus. Das Schillinggelände ist dort, wo andere in Zukunft hin wollen. Problematisch jedoch: Das zeitgleiche Zusammenwirken von Unsicherheiten in der etablierten KfW-Förderung, anhaltend gestiegene Baukosten und die gestiegenen Bauzinsen. Das wirkt sich auf die individuellen Finanzierungen erheblich aus. Politik und auch große Teile der Verwaltung wirken überfordert. Der lösungsorientierte Umgang mit Risiken gehört nicht zum System. Ängste dominieren und nähren die Argumente derjenigen, die Klimaschutz und bezahlbaren Wohnraum für Gegensätze halten.

Lokalpolitik wird nervös „Das Neue ist schuld“

In der Beratung unter den Fachleuten herrschte Einvernehmen: Nachfrage für das Projekt gibt es. Die Voraussetzung für bezahlbares und nachhaltiges Wohnen sind vorbildlich geschaffen. Die Art der Immobilienfinanzierung ist das zu lösende Kernproblem. In der Bezirkspolitik jedoch steigt die Nervosität: Das neue und ungewohnte Konzept ist das „Grundübel“. „Wir brauchen mehr freistehende Einfamilienhäuser für die jungen Familien“. „Die Klimaschutzziele machen alles unbezahlbar“. Wenn sich die Überforderung ehrenamtlicher Politik in generellem Ablehnungsverhalten manifestiert, stößt die Vermittlungsaufgabe in jedem Projekt an Grenzen. Es wird lokal ausgetragen, was an nationalen und europäischer Stammtischen vorgelebt wird. Mit Fakten, vorausschauender Sacharbeit und dem Anspruch Strategien für die Zukunft zu vermitteln, scheint man aus der Zeit gefallen. Schwierige Lagen zu akzeptieren und mit klarem Kopf Lösungen zu finden, zeigt sich gegen „einfache Wahrheiten“ chancenlos.

Geschäftsführer musste gehen

Der Aufsichtsrat der Sennestadt GmbH hat auf Initiative langjähriger politischer Gegner die anstehende Vertragsverlängerung des Beamten Neugebauer als Geschäftsführer abgelehnt. Dies ist formal eine Empfehlung an die Gesellschafterin Stadt Bielefeld. Trotz zahlreicher Betroffenheitsbekundungen und einiger „Empörung“ über die Art des Vorgehens hat es das politische Bielefeld jedoch nicht gemeinsam hinbekommen, das notwendige Rückgrat zu zeigen. Der Ratsausschuss für Finanzen und Beteiligung hat am 07.09.2023 auf aktives Betreiben des Oberbürgermeisters entschieden, dass Neugebauers am 30.09.2023 auslaufender Geschäftsführervertrag nicht verlängert wird, der Bestand der Sennestadt GmbH auf den Prüfstand gestellt wird und bis auf Weiteres die Leiterin des Amtes für Konzerncontrollings und Steuerfragen der Stadt Bielefeld als Interims-Geschäftsführung berufen wird. Die Aufsichtsratsvorsitzende (CDU) fordert in der Presse eine Abkehr von der Klimaschutzsiedlung und freistehende Einfamilienhäuser für junge Familien.

Der außergewöhnliche Transformationsprozess in Sennestadt ist nun auch für uns vorbei

In der ersten Oktoberwoche 2023 wurde uns in einem Telefonat mitgeteilt, dass man keinen Bedarf für unsere Beratung mehr sähe. Kein Beinbruch, unsere Aufgaben waren in den letzten beiden Jahren ohnehin auf einige Sonderthemen begrenzt. Konzeptvergabeverfahren für gewerbliche Flächen, Kommunikationsberatung und die zukünftige Rolle gemeinnütziger kommunaler Gesellschaften waren die Themen. Ziemlich genau 13 Jahre haben wir die Sennestadt über mehrere Projekte im Transformationsprozess begleitet. Mit größter Sorge nehmen wir nun jedoch die Berichte lokaler Akteure wahr. Der politische Vorgang hat dem Schillinggelände als Schlüsselprojekt mitten in der schwierigen Vermarktungsphase bereits deutlich geschadet. Uns besorgt, wie die Lage von überfordert wirkenden handelnden Personen aktuell verwaltet wird. Langjährig engagierte Akteure ziehen sich zurück. „Bielefeld macht sich fit, wieder von gestern zu sein“. So bringt es ein Beobachter auf den Punkt.

Bernhard Neugebauer gilt unsere Wertschätzung für 13 Jahre lebendige Zusammenarbeit, für seine klare Haltung zur gemeinwohlorientieten Stadtentwicklung und nicht zuletzt dafür, dass offene Kritik und eine abweichende Meinung des Beraters für Ihn nie ein Mangel waren, sondern Basis eines vertrauensvollen Miteinanders.

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